Knautschzone Bezirkspolitik

Ist die BVV teuer und überflüssig?

Bezirksverordnetenversammlungen - allein das Wort ist ein Monster. Sind sie wichtig für die Demokratie in Berlin? Oder bekommen ihre Mitglieder viel Geld, um Politik zu spielen? Selbst unter den BVV-Mitgliedern zweifeln manche an ihrer Rolle, zeigt eine exklusive Umfrage.

Mittwoch, kurz vor fünf: Langsam füllt sich die Aula 2 des Schadow-Gymnasiums mit Bezirksverordneten. Sie kommen für die letzte Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung Steglitz-Zehlendorf in diesem Jahr zusammen. Der abgeschabte Holzboden des Saals quietscht, die Vorsitzende der FDP-Fraktion verteilt Lindor-Kugeln an alle Anwesenden, über die Beschallungsanlage läuft leiser Weihnachtsjazz.

Normalerweise würde die Sitzung im Bürgersaal des Zehlendorfer Rathauses stattfinden. Der wird jedoch gerade benötigt, um die Wiederholung der Berliner Abgeordnetenhauswahlen vorzubereiten. Andere Räume im Rathaus sind zu klein und einige außerdem wegen Schimmel nicht benutzbar.

Der Vorsteher der BVV blickt von der Bühne ins Plenum. Dort sitzt Mia Schumacher. Sie ist mit gerade mal zwanzig Jahren schon Bezirksverordnete bei den Grünen. Im Oktober ist sie für ein anderes Mitglied nachgerückt.

Mia Schumacher ist im Sommer 2020 in die Politik "reingerutscht", wie sie sagt. Nach dem Abitur suchte sie nach einer sinnvollen Beschäftigung - viele Optionen gab es wegen Corona nicht. Sie begann, sich bei der Grünen Jugend zu engagieren. Schnell wurde sie dort Bezirkssprecherin und arbeitete am Programm für die letzte Wahl mit. Das hat zwar viel Zeit gekostet, aber auch einfach Spaß gemacht, erzählt Schumacher.

Dabei hat sie auch noch eine andere Erfahrung gemacht: Kommunalpolitik ist kein reiner Rentner-Club. Sie habe schon viele junge Menschen kennengelernt, die dort aktiv sind. Auch in ihrer eigenen Fraktion. Deshalb seien einige der der Sitzungen für sie auch so etwas wie ein Abend mit Freunden. Außerdem werde man als junger Mensch in der Kommunalpolitik durchaus ernst genommen. Meistens zumindest. 

Was sie allerdings anstrengend findet: In ihrer BVV gibt es keine Begrenzung der Redezeit. Das koste Zeit und Effizienz. Auch sonst sind die Verfahren oft lang und langsam. "Aber so ist es halt. Man muss sich dran gewöhnen und versuchen, das Beste draus zu machen.", findet Schumacher.

Welche Blüten Debatten ohne Redezeit treiben können, zeigt sich auch an diesem Abend in der BVV-Sitzung. Viel Zeit nimmt dabei die Diskussion über die Sanierung des maroden Zehlendorfer Rathauses ein. Vielen Redner*innen ist dabei scheinbar am wichtigsten, welche Partei in den letzten Jahrzehnten daran Schuld war, dass das Rathaus so heruntergekommen ist. Die Diskussion zieht immer weitere Kreise. Nachdem ein CDU-Politiker pauschale Kritik an den Parteien der rot-grün-roten Landesparteien geübt hat, tritt der SPD-Fraktionsvorsitzende ans Rednerpult und setzt noch einen drauf. Im Saal kommt Unruhe auf:

Der SPD-Fraktionsvorsitzende Volker Semler während der Debatte zum baufälligen Rathaus.

Der SPD-Fraktionsvorsitzende Volker Semler während der Debatte zum baufälligen Rathaus.

Schließlich greift der Vorsteher ein: Der Redner solle sich beruhigen, der Rest solle sich melden, wenn er etwas zu sagen habe und nicht dazwischenrufen. Mia Schumacher sitzt derweil geduldig im Plenum. Sie hat im Ausschuss für Frauen, Gleichstellung und Queer an einem Antrag mitgearbeitet, der nachher zur Abstimmung steht. Es ist erst ihre dritte BVV-Sitzung, seit sie in das Gremium gekommen ist.

Mia Schumacher im Büro der Grünen-Fraktion im Rathaus Zehlendorf.

Mia Schumacher im Büro der Grünen-Fraktion im Rathaus Zehlendorf.

Das Rathaus hat schon deutlich bessere Zeiten gesehen.

Das Rathaus hat schon deutlich bessere Zeiten gesehen.

Der Eingang zum Rathaus führt durch eine Baustelle.

Der Eingang zum Rathaus führt durch eine Baustelle.

Der alte Hase

Marko Preuß hat dagegen schon viele solcher Sitzungen erlebt. Er ist seit 21 Jahren für die SPD in der Bezirksverordnetenversammlung von Neukölln. Außerdem ist er Teil des Fraktionsvorstandes und Vorsitzender im BVV-Ausschuss für Verkehr und Tiefbau. Das Büro seiner Fraktion versteckt sich im vierten Stock des Neuköllner Rathauses hinter einem kargen Flur. Es ist schwierig zu finden, wenn man nicht weiß, welchen Aufzug man nehmen muss.

Das Büro ist ziemlich voll, an den Wänden sind Stühle gestapelt. Im Eingang, neben dem Schreibtisch der Fraktionsgeschäftsführerin, hängt ein Plakat von Willy Brandt.

Auf dem Tisch mit Kunststoffplatte in Holzoptik steht eine Blechdose mit günstigen Keksen und ein paar Getränke. Darunter Rixdorfer Fassbrause. Sie hat ihren Ursprung im Stadtteil Neukölln, der bis 1912 Rixdorf hieß. Tradition verpflichtet. Preuß kommt ein paar Minuten zu spät zum Interviewtermin. Er hat noch Lebkuchen abgeholt, die er am nächsten Tag als Wahlkampfgeschenk an U-Bahn-Eingängen verteilen wird. Parteiarbeit an der Basis.

Marko Preuß ist gerne Bezirkspolitiker, doch er hadert manchmal mit den engen Grenzen, die den BVVen auferlegt sind. Das muss er auch den Menschen im Bezirk erklären, die mit Anliegen zu ihm kommen:

“Der Hauptteil meiner Antworten ist immer, warum was nicht geht, oder warum ich nicht zuständig bin und das ist immer ein bisschen ärgerlich.” 
Marko Preuß

Dabei werden die Ansprüche der Bürgerinnen und Bürger immer größer, erzählt Preuß. Während es früher hin und wieder mal einen Brief oder eine E-Mail mit einer Bitte gegeben hätte, wollten die Leute inzwischen deutlich mehr selbst mitreden oder fordern Ortstermine ein: Preuß solle sich zum Beispiel morgens um acht Uhr die Verkehrssituation vor einer Schule anschauen. Das Problem dabei: "Jeder Gemeinderat einer Stadt mit 20.000 Einwohnern hat mehr Einfluss als wir.", sagt Preuß.

BVVen an die Macht!

Mit dieser Einschätzung ist Marko Preuß offenbar nicht alleine. In einer Umfrage unter den Berliner BVV-Mitgliedern hat fast die Hälfte der Teilnehmenden angegeben, nicht zufrieden mit ihrem Einfluss in der Bezirkspolitik zu sein.

Analog dazu geben 50 Prozent der befragten BVV-Mitglieder an, die Bezirksämter hätten im Vergleich zu ihnen zu viel Macht. Trotzdem glaubt eine große Mehrheit der Befragten, dass BVVen wichtig für die Demokratie seien. Allerdings: Mehr als zehn Prozent sind von der eigenen Bedeutung nicht so überzeugt.

Allzu großes Selbstvertrauen ist auch nicht angebracht, wenn man den Erzählungen von Marko Preuß zuhört. Auf die Frage, was das Wichtigste sei, das die Bürgerinnen und Bürger über die BVVen wissen sollten, antwortet Preuß: “Dass es sie gibt." Ihm begegneten sehr oft Menschen, die nicht wüssten, was eine BVV sei. "Nicht nur, dass die Leute mit der Abkürzung nichts anfangen können, Sie wissen überhaupt nicht, dass es Bezirksparlamente gibt", sagt Preuß.

Kuriositätenkabinett der Kompetenzen

Wie genau sind denn die Kompetenzen der Bezirke und ihrer scheinbar so unbekannten BVVen? Testen Sie sich: Können Sie sich durch den Berliner Verwaltungsdschungel schlagen?

"Organisierte Verantwortungslosigkeit", "zunehmend ärgerlicher Pferdefuß", "weltweit bekannte Dysfunktionalität" - Über die Berliner Verwaltungsstruktur ist schon viel Schlechtes gesagt worden.

Wie konnte es dazu kommen?

Ihren Ursprung hat sie in der Entstehung Berlins, so wie wir es heute kennen. 1920 wurde aus "Alt-Berlin" und den umliegenden Städten "Groß-Berlin" gegründet. Auf der Karte von 1861 kann man noch gut erkennen, dass zum Beispiel Moabit und Charlottenburg früher eigene Städte waren.

"Aus dieser Zusammenlegung ist kein einfaches Ergebnis entstanden.", erklärt der Verwaltungsexperte Peter Ottenberg. Er ist Co-Autor des "Praxiskommentars zum Berliner Bezirksverwaltungsrecht", Geschäftsführer des Rats der BVV-Vorsteherinnen und -Vorsteher und hat selbst jahrelange Erfahrung aus der BVV-Arbeit. Kurz: Er kennt sich wirklich aus.

Städte wie Charlottenburg haben sich ihre Eingemeindung nach Berlin teuer abkaufen lassen, sagt Ottenberg. Und sie waren sehr daran interessiert, die Kompetenzen für die örtlichen Belange ihrer Bürger zu behalten. So ist die zweistufige Verwaltung mit einer Hauptverwaltung auf Landesebene und den Bezirken darunter entstanden. Den heutigen Status, dass Berlin Stadt und Bundesland zugleich ist, hatte der Westteil Berlins seit 1948.

Die Mitglieder der Bezirksverordnetenversammlungen sind die von der Einwohnerschaft demokratisch legitimierten Vertreterinnen und Vertreter zur Kontrolle der Verwaltung, also des Bezirksamts. Und sie haben Initiativrecht für die Gestaltung der sogenannten örtlichen Belange, also praktisch für das Wohnumfeld der Einwohner. 

Begrenzte Möglichkeiten

Zumindest theoretisch. Denn die örtlichen Belange sind in Deutschland die Aufgaben der Kommunen. Berlin ist aber als Ganzes eine Kommune, nicht die Bezirke. Deshalb haben BVVen weniger Entscheidungsrechte als zum Beispiel die Stadträte einer kreisfreien Stadt. Diese sind nämlich für alle örtlichen Belange ihres Stadtgebiets verantwortlich. Die BVVen dagegen nur für das, was ihnen per Gesetz zugewiesen wird. Während außerdem die Gemeinderäte anderswo immer direkt entscheiden können, ist das bei den BVVen anders. 

Es gibt nur einen kleinen Kompetenzbereich, in dem die BVVen direkt selbst entscheiden können: Was dazugehört ist im Bezirksverwaltungsgesetz festgelegt und umfasst zum Beispiel den Bezirkshaushaltsplan (wobei es dabei in der Praxis auch nur wenig Spielraum gibt), Genehmigung von Bebauungsplänen oder das Erstellen des Schulentwicklungsplans im Bezirk. Meistens stimmen die BVVen dabei aber über Vorlagen ab, die das Bezirksamt erstellt hat. Denn die ehrenamtlichen BVV-Mitglieder wären mit den komplexen Vorschriften, die es für Bebauungspläne gibt, völlig überfordert, diese selbst aufzustellen, sagt Ottenberg. Dazu brauche es die hauptamtlichen Mitarbeiter im Bezirksamt.  

Die meisten Beschlüsse der BVVen sind aber nicht solche direkten Entscheidungen, sondern Ersuchen oder Empfehlungen an das Bezirksamt. Empfehlungen beschließt die BVV, wenn auch das Bezirksamt nicht abschließend über eine Sache entscheiden kann, weil die Kompetenz beim Land liegt. Dann bittet die BVV das Bezirksamt in einer Empfehlung darum, sich beim Senat für das Anliegen der BVV stark zu machen. Die BVVen dürfen sich mit ihren Beschlüssen nur an das eigene Bezirksamt wenden, nicht an den Senat direkt. 

Ersuchen beschließt die BVV, wenn die Kompetenz für eine Sache im eigenen Bezirk liegt. So hat die BVV Steglitz-Zehlendorf in ihrer letzten Sitzung zum Beispiel Folgendes beschlossen:

“Das Bezirksamt wird ersucht, umgehend eine sichere und komfortable Lösung für den Radverkehr in der Mühlenstraße zu finden und diese auch schnellstmöglich umzusetzen.” 
Beschluss der BVV Steglitz-Zehlendorf am 07.12.2022

Das Bezirksamt muss dann das Anliegen der BVV prüfen und gegebenenfalls Alternativen vorschlagen. Was die BVV beschlossen hat, ist für das Bezirksamt nicht rechtlich bindend. Es kann das Anliegen der Bezirksverordneten auch ablehnen, muss das allerdings begründen. Lehnt das Bezirksamt ein Ersuchen ab, kann die BVV dessen Entscheidung per Beschluss aufheben und durch eine eigene Entscheidung in der Sache ersetzen. In der Praxis findet Letzteres nur ausgesprochen selten statt. Laut Ottenberg arbeiten die Bezirksverordneten in den Ausschüssen meist gemeinsam mit der Bezirksverwaltung an Entwürfen. Damit werden viele Konflikte vermieden. 

"Ein großes Problem ist einfach die Mentalität einiger BVVler*innen. Teilweise fühlt es sich so an, also ob es Leute halt nicht auf die "große" Bühne geschafft haben und dann riesen Reden in der BVV schwingen, die gar nicht relevant sind.
Anonymes BVV-Mitglied aus Umfrage

Selbstverschuldete Machtlosigkeit?

Aber selbst die Entscheidungsmöglichkeiten, die die BVVen haben, nutzen sie nicht richtig. Das findet zumindest der Bezirksverordnete Thomas (Name geändert). Er kritisiert welche Dynamik zwischen der BVV und dem Bezirksamt entstehen kann:

„Man ist als BVV für alles Gute zuständig und die Verwaltung immer für alles Böse. Man beschließt Anträge wie ‚Liebes Bezirksamt, prüfe doch mal, ob nicht doch Friede, Freude, Eierkuchen geht.‘ Und dann muss das Bezirksamt leider sagen: ‚Nee, für Eierkuchen ist kein Geld mehr da.‘ Obwohl die Mehrheit der BVV das vorher weiß, dass das rauskommen wird. Solche Dinge kommen sehr häufig in den Berliner BVVen vor. Das führt eben nicht dazu, dass man Verantwortung für Entscheidungen übernimmt, sondern man überlässt den Hauptteil der Entscheidung der Verwaltung.“ 

Auch würden sich die BVVen zu viel mit Themen beschäftigen, die eigentlich auf der Landesebene spielen und über die eine BVV gar nicht entscheiden könne. Teilweise beziehe sich die Hälfte der Anträge in einer Sitzung auf solche Dinge. "Eigentlich ist so eine BVV auch dafür da, Entscheidungsprozesse abzuschließen. Das nimmt immer nicht so eine große Rolle ein, sagt Thomas. Er findet: „Man könnte für das Geld erwarten, dass sich die Tätigkeit mehr um Entscheidungen dreht." Damit spielt er auf die Aufwandsentschädigungen an, die Bezirksverordnete in Berlin erhalten.

Großzügiger Geldsegen

Die Aufwandsentschädigung der BVV-Mitglieder ist an die Diäten der Abgeordneten im Abgeordnetenhaus gebunden. Ihre Grundentschädigung beträgt 15 Prozent der Diäten, gerundet auf fünf Euro. Dazu kommen eine Pauschale für Mobilität sowie Sitzungsgelder für Plenar-, Fraktions- und Ausschusssitzungen. Bezirksverordnete, die besondere Funktionen innehaben, wie Fraktionsvorsitzende oder die BVV-Vorsteher, bekommen eine höhere Grundentschädigung. Für ein "einfaches" BVV-Mitglied, das pro Monat eine Plenarsitzung, zwei Fraktionssitzungen und zwei Ausschusssitzungen besucht, beträgt die monatliche Aufwandsentschädigung aktuell 1.147€. Steuerfrei. Je nach Partei ist es üblich, einen monatlichen Betrag davon "freiwillig" an die Partei zu spenden.

In den letzten 15 Jahren ist die Aufwandsentschädigung stark gestiegen. Zuletzt 2020, als das Abgeordnetenhaus vom "Teilzeitparlament" zum "Hauptzeitparlament" wurde und deshalb die Diäten deutlich erhöht wurden. Insgesamt hat sich die Aufwandsentschädigung damit um den Faktor 2,5 erhöht, also mehr als verdoppelt. Zum Vergleich: Laut Amt für Statistik Berlin-Brandenburg sind die Löhne in Berlin zwischen 2007 und 2021 nur um den Faktor 1,4 gestiegen.

Ist das angebracht? SPD-Politiker Marko Preuß druckst etwas herum. "Das müssen Sie jetzt sagen, ob das für Sie viel oder wenig ist. Ich finde es ok, weil das ist halt nicht der Grund, warum man es macht. " Nähme er als Freiberufler in der Zeit mehr Aufträge an, könne er damit deutlich mehr verdienen, ergänzt Preuß. Außerdem sei die Entschädigung auch eine Anerkennung für seine Zeit, was er gut finde.

Für Studentin Mia Schumacher ist die Sache klar: Denn die Aufwandsentschädigung ermögliche auch Studierenden ohne eigenes Einkommen, sich lokalpolitisch zu beteiligen. Es sei schwierig, in der wenigen Zeit neben Studium und BVV-Engagement auch noch zu arbeiten. Zumal man in den wenigen Stunden Zeit, die dafür blieben, auch nicht genügend Geld für eine Wohnung in Berlin verdienen könne.

Auch in der Umfrage finden die meisten Bezirksverordneten die Höhe ihrer Aufwandsentschädigung richtig. Allerdings hält sie fast ein Drittel der Befragten eher zu hoch.

So auch Verwaltungsexperte Peter Ottenberg: Berlin habe mit die höchsten Aufwandsentschädigungen für Gemeindevertreter deutschlandweit. Das sei angesichts der beschränkten Verantwortlichkeiten, die BVV-Mitglieder haben, einfach zu viel.

“Das ist wirklich ein großes Ärgernis inzwischen. Ich weiß nicht, wie man das gegenüber der Öffentlichkeit noch rechtfertigen soll.” 
Peter Ottenberg

Im Kontrast zu den Bezirksverordneten und den Mitarbeitern ihrer Fraktionen, seien die Menschen, die in den BVV-Büros arbeiten und die Abläufe rund um die Arbeit der Bezirksverordneten organisieren, zu schlecht bezahlt, findet Ottenberg. Allerdings glaubt er nicht, dass irgendeine Partei sich trauen würde, die Entschädigungen für die BVV-Mitglieder wieder zu kürzen. Das könnte das Abgeordnetenhaus durch ein einfaches Gesetz tun.

Der Bezirksverordnete Thomas hat dazu eine eigene Theorie: "Überspitzt gesagt ist das eine Stillhalteprämie für die Knautschzone Bezirkspolitik. Bezirke sind für viele Bürgerinnen und Bürger, die sich einbringen wollen, die erste Anlaufstelle. Dafür sind sie sicherlich noch gut, dafür will sie keiner missen. Ich glaube, dass man auf Landesebene nicht wollen würde, dass jedes Bürgeranliegen direkt dort auf dem Tisch landet.“

Ungewisse Zukunft

So unterschiedlich die Ansichten in Sachen Aufwandsentschädigung sein mögen, so einig sind sich alle, dass die Berliner Verwaltung unbedingt reformiert werden muss. Damit müssen auch die Bezirksverordnetenversammlungen auf den Prüfstand.

Der Landesvorstand der Berliner FDP will die Bezirksämter gleich komplett abschaffen. Dafür sollen die BVVen sich dann mit Anliegen aus ihrem Bezirk direkt an den Senat wenden können. In den Bereichen, die noch auf Bezirksebene verbleiben, sollen die BVVen mehr selbst entscheiden können. Das wären laut des Papiers zum Beispiel Grünflächengestaltung, Jugendfreizeiteinrichtungen und die Gestaltung von Einkaufsstraßen. Klar ist aber auch: Wichtige Felder wie der Verkehr gehen komplett ans Land. Und: Die BVVen hätten mit dem Senat einen regelrecht übermächtigen "Gegenspieler", wenn sie nicht deutlich mehr Ressourcen bekämen.

Berlins Staatssekretär für Digitalisierung und Verwaltungsmodernisierung, Ralf Kleindiek aus der SPD-geführten Innenverwaltung hat für den Senat einige erste Ideen für eine Verwaltungsreform vorgestellt. Nach seinem Plan sollen die Aufgaben zwischen Senat und Bezirken neu aufgeteilt werden. Dabei sollen die Bezirke im Auftrag und unter der Aufsicht des Landes Aufgaben erfüllen, etwa in den Bereichen Bürgerservice, Digitalisierung und Verkehr. Das wirft die Frage auf, ob die BVVen dann dort noch die Bezirksämter kontrollieren können, wenn das gleichzeitig auch der Senat mit seiner neuen Aufsicht tut. Dieser wird sich von den BVVen vermutlich nicht reinreden lassen wollen.

Zusätzlich soll ein politisches Bezirksamt eingeführt werden. Das bedeutet, dass die Zählgemeinschaft in der BVV (eine Art Koalition auf Bezirksebene) zukünftig alle Bezirksstadträte stellt und nicht jede Partei nach ihrem Wahlergebnis. Das entspricht dem Wunsch vieler BVV-Mitglieder. In der Umfrage haben fast zehn Prozent der Befragten von sich aus das politische Bezirksamt als ihren Reform-Wunsch für die Bezirkspolitik angegeben.

Einen besonders umfangreichen Plan haben die Grünen vorgelegt. Auch sie wollen die Aufgaben zwischen Land und Bezirken neu aufteilen: Nämlich in staatliche Aufgaben, die das Land wahrnimmt, und in gemeindliche Aufgaben, die die Bezirke erfüllen sollen. Ebenfalls soll das Land eine neue Fachaufsicht über die Bezirke bekommen und die Grünen wollen auch das politische Bezirksamt einführen. Bei der Präsentation des Plans stellte die ehemalige grüne Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann klar: Erst muss die Rolle der Bezirksämter definiert werden, danach kann man sich die Rechte der BVVen ansehen.

Diese Reformen wünschen sich BVV-Mitglieder

"Echte Bindewirkung der BVV-Beschlüsse für das Bezirksamt und nicht nur Anregung von Verwaltungshandeln."
BVV-Mitglied aus Pankow
"Digitale Tagungsmöglichkeiten, um der Work-Life-Balance und auch dem anderen Job gerecht werden zu können."
BVV-Mitglied aus Marzahn-Hellersdorf
"Die Senatsebene sollte sich nicht in jede Detailaufgabe, z.B. Baumaßnahmen, einmischen. Mehr Eigenständigkeit der kommunalen Ebene hilft allen. Klare Zuständigkeiten auch."
BVV-Mitglied aus Charlottenburg-Wilmersdorf
"Die Arbeit in der BVV muss familienfreundlicher werden. Darüber hinaus müssen marginalisierte Gruppen einen besseren Zugang zur Teilhabe an der BVV bekommen."
BVV-Mitglied aus Pankow
"Mehr Information der Bewohner*innen über die Existenz und Arbeit der BVV - bessere Einbindung und Vernetzung."
BVV-Mitglied aus Friedrichshain-Kreuzberg
"Ein politisches Bezirksamt würde Arbeit in der BVV interessanter machen."
BVV-Mitglied aus Reinickendorf
"BVVen als Vollzeitparlamente"
BVV-Mitglied aus Lichtenberg
"Mehr Mittel zur freien Verfügung im Bezirkshaushalt."
BVV-Mitglied aus Steglitz-Zehlendorf

Und Mias Antrag?

Die BVV-Sitzung in Steglitz-Zehlendorf zieht sich. Weil es keine Pause gibt, gehen einige Bezirksverordneten zwischendurch raus und holen sich etwas zu essen. Ein CDU-Politiker kommt mit einer braunen To-Go-Box und einer Dose Limonade wieder in den Saal. In Mias Fraktion hat jemand eine große Tüte Gebäck geholt. Der BVV-Vorsteher kämpft zwischenzeitlich mit einer Tüte Schokoladenlebkuchen, die sich einfach nicht öffnen lassen will.

Nach ungefähr vier Stunden Sitzung ist es soweit: Der Vorsteher ruft den Tagesordnungspunkt Ö 8.1 auf - es ist der letzte für heute. Ein Fraktionskollege von Mia stellt den Antrag vor. Es ist eine Resolution, in der sich die BVV mit den Frauen solidarisieren soll, die gegen das iranische Regime demonstrieren. Im Oktober hatten mehrere Vermummte eine Mahnwache vor der iranischen Botschaft im Bezirk angegriffen. Wer dahintersteckt, ist noch unklar.

Es folgt eine kurze Aussprache, dann wird abgestimmt. SPD, Grüne, FDP und Linke stimmen dafür. CDU und AfD enthalten sich. Der Antrag ist angenommen. Ein Stück Bezirkspolitik. Made in Berlin.